Der Tag, als ich meine Stimme verlor

Es war der Morgen jenes Tages, an dem ich das erste Seminar meines Lebens halten sollte. Ich schlug die Augen auf und fühlte ein fremdes Gefühl im Hals. Ich versuchte, etwas zu sagen. Das Ergebnis: Nichts. Gar nichts. Kein Wort kam aus meinem Mund, nicht einmal ein Pieps. Ich war 24 Jahre alt und stumm.

7 Monate vorher: Mein Weg zum „Systemanalytiker“

Damals war ich Angestellte eines Unternehmens, das Systemautomatisierungs-Anlagen herstellte. Diese Anlagen wurden für die Ablauf-Automatisierung und Steuerung für Flughäfen, Bahnhöfe oder Kraftwerke individuell zusammen gebaut und programmiert. Der Großteil der über 100 Mitarbeiter des Unternehmens waren Informatiker (ausnahmslos Männer). Ich hatte damals gerade mal ein Jahr Abendschule „Höhere Technische Lehranstalt für EDV und Organisation“ absolviert. Eines von vier harten Jahren Schule, die ich am Abend nach der Arbeit besuchte.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte zu dieser Zeit so gut wie keine Ahnung von EDV.

Ich hatte mich auf diese Stelle aufgrund einer Wette mit einem Kollegen beworben. Es war mir bewusst, dass meine EDV-Kenntnisse nicht ausreichten, um in der IT-Branche einen Job zu bekommen. Damals arbeitete ich bereits 4 Jahre als Bautechnikerin in einem großen Unternehmen, das Baustoffe herstellte. Und am Abend besuchte ich diese besagte Schule. Ein Kollege hatte mir von seinem „Hobby“ erzählt: Er bewarb sich bei Unternehmen. Zu einen um seinen „Marktwert“ zu testen und zum anderen als Übungsgelegenheit für den Fall, dass irgendwann einmal tatsächlich sein Traumjob ausgeschrieben würde. Mir gefiel diese Idee. „Das traust du dich nie, das zu machen.“, meinte er. So eine Aussage konnte ich nicht auf mich sitzen lassen.

Zu Hause holte ich Zeitungen aus der Altpapierschachtel – die Samstagsausgabe mit den vielen Jobangeboten. Eine Anzeige gefiel mir besonders. Da wurde ein „Systemanalytiker“ gesucht. (Damals wurden Stellenbezeichnungen nicht „gegendert“.) Einige der verlangten Anforderungen verstand ich nicht. (Es gab damals ja kein Internet, wo man schnell danach suchen konnte.) Aber egal. Ich hatte in der Abendschule bereits das Wort „Systemanalytiker“ gehört – stets in der Kategorie „Besserverdiener“ genannt. Ich hatte bei der Baustofffirma ein mickriges Gehalt und wollte mir endlich auch einmal einen Urlaub oder vielleicht irgend wann einmal ein Auto leisten können.
Eines Tages, wenn ich genug gelernt hatte, um mich als Systemanalytiker zu bewerben, dann würde ich das möglicher weise auch tun. Und so schien mir dies ein gutes Übungsfeld zu sein – ganz im Sinne meines Arbeitskollegen.

Ich bewarb mich also. Und erlebte eine anregende Unterhaltung über Themen zur Arbeitswelt, zu Philosophie und zu unterschiedlichen Mentalitäten von Wienern, Tirolern und Engländern. Mein Gesprächspartner hatte einen starken englischen Akzent, obwohl er seit vielen Jahren in Österreich lebte.

Nach diesem Gespräch fasste ich den Vorsatz für eine spätere ernsthafte Bewerbung: Ich werde darauf achten, dass ich genau so einen sympatischen Chef bekommen werde wie diesen Herrn mit dem winzigen Snoopy am Revers seines Sakkos.

Ich hatte die Wette und damit eine Flasche Sekt gewonnen. Aber dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Zwei Wochen später kam der Anruf: Ich hatte den Job.

Als ich später meinen Chef fragte, warum er mich Neuling für diesen Job genommen hatte, war seine Antwort: „Ich brauchte jemand, der schnell lernt, sich flexibel auf Situationen einstellen und gut mit Menschen umgehen kann. Eine junge Frau, die eine technisches Schule und 4 Jahre unter Bautechnikern überlebt hat, schien mir dafür geeignet zu sein.“

Ein Monat vorher: Ein Neuling bereitet ein Seminar vor

Ich arbeitete hart, um als „Systemanalytiker“ bestehen zu können. Und lernte sehr schnell alles was ich brauchte. Mein Chef hatte im Büro eine gut sortierte Bibliothek, die mir eine große Hilfe war. Jeder Tag war eine neue Herausforderung und jeden Abend nahm ich ein oder mehrere Bücher mit nach Hause.

Da übertrug mir mein Chef eine weitere Aufgabe: Ich sollte einen Kurs für neu eingestellte Informatiker über MS-DOS abhalten. Die Informatiker programmierten die Großrechenanlagen und sollten dazu auch Personal Computer als Schnittstelle Mensch-Maschine programmieren. Es war Ende der 80iger Jahre, Personal Computer waren relativ neu und deren Betriebssystem war MS-DOS (Microsoft Disk Operating System).

Ich hatte noch immer wenig Ahnung von EDV, wenig Ahnung von MS-DOS und von Großrechner-Programmierung. Und ich sollte Informatiker – in meinen Augen EDV-Superexperten – etwas EDV-mäßiges beibringen, von dem ich selbst kaum Ahnung hatte.

Nein sagen auf eine Herausforderung war noch nie mein Ding.

Ich zog mit alles rein, was ich über das Betriebssystem MS-DOS in die Finger bekommen konnte und versuchte zu erfahren, was die Kollegen davon brauchen könnten. Ich erstellte Seminar-Unterlagen für ein zweitägiges Seminar. Zuerst würden alle Informatiker des Unternehmens geschult werden. Dann sollte es ein Standard-Seminar für neu eingestellte Informatiker werden. Das Unternehmen wuchs weiterhin ziemlich schnell.

Das erste Seminar … findet nicht mit mir statt

Am Vorabend des Seminars kopierte ich die Seminarunterlagen für die Teilnehmer. Bis spät in die Nacht hinein bereitete ich mich noch vor.

Und am nächsten Morgen – siehe oben. Stimme weg.

Ich fuhr in die Firma. Zeigte meinem Chef mit Zeichensprache, dass ich keine Stimme hatte. Mein Chef verzog keine Mine, fragte nur: „Wo sind die Seminar-Unterlagen?“

Er nahm die Unterlagen und hielt die zwei Seminartage ab. Er verlor nie ein einziges Wort darüber. Ich war ihm unendlich dankbar dafür.
Nach zwei Tagen war meine Stimme so plötzlich wieder da, wie sie plötzlich verschwunden war. Die nächsten Seminare hielt ich dann alle selbst ab. Mir versagte nie wieder die Stimme.

Ich habe sehr viel dabei gelernt. Nicht nur, wie man ein gutes Seminar macht – gerade auch dann, wenn man selbst nicht perfekt in dem Thema verhaftet ist.
Und vor allem erfuhr ich, wie wertvoll es ist, einen Menschen zu haben, der an einen glaubt – wenn man selbst nicht an sich glaubt. Und dass man versagen kann und es gut ist, trotzdem weiter zu machen.


In dankbarer und liebevoller Erinnerung an meinen ehemaligen Chef, der mich gelehrt hat, dass Zuhören und wirkliches „Da-sein“ oft wichtiger ist als alle fachlichen Ausbildungen zusammen genommen. Danke, Mr. Watkins.

Ich freue mich, wenn du meinen Artikel teilst! 🙂

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